Die Idee zu Home hatte ich beim Fahren auf der Autobahn. Häuserzeilen zogen an den Autofenstern vorbei, ich habe Menschen in Gärten gesehen oder an Plastiktischen sitzend. Und immer wieder erblickte ich leer stehende Gebäude mit zugemauerten Fenstern. Es war, als würden mir alle diese Gebäude, die an mir vorbeizogen, Geschichten erzählen.
Das permanente Hin- und Herfliessen des Stroms von Autos oder Lastwagen auf der Strasse rhythmisiert die Story des Films. Allerdings ist Home kein Roadmovie, sondern eher die Umkehrung davon: In diesem Film «bewegt» sich zwar im übertragenen und wörtlichen Sinn vieles, aber kaum jemand bewegt sich wirklich oder ist unterwegs. Der Zuschauer begibt sich mit den Figuren auf eine Expedition ohne Ortswechsel, auf eine Reise ins mentale Innere. Um am Ende vielleicht doch dort anzukommen, wo ein klassisches Roadmovie beginnen könnte.
Handlung und Schauplatz von Home bilden eine Einheit. Die Strasse ist nicht nur Dekor, sondern gewissermassen ein eigener Charakter – zwar für sich stehend, abseits der Figuren existierend, doch eng mit dem erzählten Familiendrama verknüpft.
Home handelt von einer Familie, die sich örtlich von der Alltagswelt entfernt und unter besonderen Umständen versucht, ihr Lebensmodell umzusetzen, zu leben. In der Familie herrscht eine fröhliche Stimmung, obwohl die Existenzbedingungen in der Abgeschiedenheit speziell und zunehmend belastend sind. Je näher der Termin der Inbetriebnahme der Strasse heranrückt, umso wahrnehmbarer wird die Isolation. Die Inbetriebnahme wirkt als Katalysator, initiiert Entwicklungen, die im Innenleben der familiären Gemeinschaft bereits länger geschlummert haben.
Strasse als Projektionsfläche
Die Strasse ist quasi eine Metapher der Welt, die ins Leben der Familie drängt (eine lärmige, gefährliche, verpestete, fast blutsaugerisch-bedrohliche Welt). Die Eröffnung der Autobahn wirkt auch wie eine Lupe, unter der man die Funktionsdefekte und Mängel der Familie klarer erkennt und ortet. Obwohl die Lebensumstände immer unhaltbarer werden, versuchen die Familienmitglieder, die Lage individuell in den Griff zu bekommen. Es gibt zwischen ihnen eine Art stillschweigenden Pakt, sie wollen in ihrem Haus bleiben, die familiäre Harmonie unter allen Umständen bewahren.
Die Kombination von Abgrenzung gegen Aussen und Schulterschluss im Innern führt zu sonderbaren Glücksmomenten, aus denen die Familie Kraft für den Kampf gegen die Unbill der Autobahn schöpft. Doch fragt man sich zunehmend, ob die Verbissenheit im Ausharren nicht für alle die grössere Gefahr darstellt als die Autobahn.
Um die Einheit und den Zusammenhalt der Familie zu sichern, behält jede Person ihre Leiden für sich, taucht ins Ich ab, versinkt in den trüben Zonen des eigenen Wahnsinns. Die Lebenssituation am Rande der immer feindlicheren Autobahn wird nicht als Problem, gegen das man etwas unternehmen könnte, betrachtet, sondern als unvermeidliche Tatsache, mit der es sich zu arrangieren gilt. Der Zuschauer ist also mit dem unvermeidbaren Willen zu permanenten Anpassungsversuchen an die Lebensumstände konfrontiert.
Die Einzigartigkeit von Home liegt darin, dass sich die Handlung knapp neben einer Verkehrsader abspielt, wo tagtäglich Tausende vorbeifahren. Für die Familie bleiben die Auto-Passanten anonym. Die Welt der Autobahn und diejenige der Familie bleiben Parallelwelten, es kommt zu keiner Interaktion, wobei die Familie natürlich allen negativen Nebenerscheinungen – Hupkonzerte, Warnlichter, Lautsprecherdurchsagen, Abfallorgien – ausgesetzt ist. Abgesehen von der letzten Einstellung nimmt die Kamera konsequent die Position der Familie ein. Das erlaubt dem Zuschauer, die Entwicklung der Lage aus Sicht der Filmfiguren zu erleben und sich nach und nach in deren Verhaltensweise einzufühlen. Die Autobahn selbst, ein gleichzeitig hin- und herwogender Strom, wird im übertragenen Sinn zur Projektionsfläche für eigene Ängste oder Neurosen.
Schwarzer Humor
Angesichts des immer seltsamer anmutenden Verhaltens der Filmfiguren erkennt man allmählich, dass die wahre Gefahr wahrscheinlich tatsächlich nicht von der Autobahn ausgeht, sondern von der Familie selber. Denn was einem in Home am Gewalttätigsten und Extremsten erscheint, ist der Wille der Gruppe, dort weiterzuleben und das Ganze auszuhalten.
Man beobachtet, wie der Mensch fähig ist, krasse Situation auszuhalten, sich mit der Wirklichkeit zu arrangieren, anzupassen, sogar über-anzupassen. Allein um des Familien¬glücks willen.
Der Film führt nicht in einer kontinuierlichen Entwicklung zu Einblicken ins kollektive Bewusstsein, sondern verweist auf die schicksalhafte Einkapselung der Personen: Das geschieht nicht kontinuierlich, sondern ruckartig, als Folge abrupter Ereignisse. Vom Moment des Eingeschlossenseins an gibt es keine Bewegungschancen mehr. Die Personen – in die Enge getrieben – können nicht mehr weiter, sie sind physisch und psychisch eingesperrt.
Home pendelt zwischen Burleske und Drama und nimmt den Zuschauer mit auf eine schwarzhumorige, filmische Gratwanderung zwischen Absurdität und Verrücktheit. Das Unbehagen, das sich einstellt, wird von der wahnhaften Hartnäckigkeit einer Schicksalsgemeinschaft erzeugt, die unter unnormalen Bedingungen normal weiterleben und ihr Familienmodell aufrechterhalten will. Obwohl genau das immer unrealistischer wird.
Die Lust, in Randzonen des Lebbaren vorzudringen, hat übrigens viel mit meinen eigenen Obsessionen zu tun. Ich habe sie schon früher in Kurzfilmen aufgearbeitet. In «Tous à table» zum Beispiel wollen Freunde eines Abends eine Rätselaufgabe lösen. Sie nehmen sich vor, dass keiner der Teilnehmer die Runde verlassen darf, bevor die Aufgabe erledigt ist. Bald wird klar, dass dieses Treffen kein gutes Ende nehmen wird. Oder in «Des épaules solides» zeige ich, wie ein junger Athlet – einer Maschine ähnlich und von wütender Besessenheit getrieben – sein Ziel verbissen erreichen will.
Bild und Ton
Der spezielle Ort der Handlung am Rande einer Autobahn verlangte nach starken visuellen und vor allem auch akustischen Effekten. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto wichtiger wird die Tonspur, denn schliesslich sind die mannigfachen Geräusche der Autobahn ununterbrochen wahrnehmbar und nehmen Einfluss auf das Leben: Sie nagen zunehmend an den Nerven der Hausbewohner und zerstören sie auf schleichende Weise. Die Ton-Präsenz, die Melodien des Lärms bilden ein wesentliches Stilmittel des Films. Deshalb habe ich mich beim Schreiben des Drehbuchs – speziell in der Endphase – und für die Arbeit mit den Schauspielern von realen Strassen-Geräuschkulissen inspirieren lassen.
ANMERKUNGEN DER REGISSEURIN URSULA MEIER
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00. DEUTSCH
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